Der Arzt hatte einen Sohn mit Namen Oswald. Der war nach dem Herzen des Vaters geraten. Früh schon half er ihm bei seiner Arbeit, und als er sechzehn Jahre alt geworden war, bat er seinen Vater, Arzt werden zu können wie er.
»Alles Geld, das ich gespart habe, will ich dir mitgeben«, antwortete Deodat, »damit du an den Universitäten von Paris und Narbonne studieren kannst. Dort wirst du vieles lernen, was ich nicht kenne. Mich betrübt, dass es viele Krankheiten gibt, die mir unbekannt sind und gegen die ich kein Mittel weiß.«
Oswald zog nach Paris und Narbonne und wurde ein fleißiger Student. In Narbonne fielen sein Lerneifer und sein Talent auch dem angesehenen Professor Matin auf. Er machte ihn zu seinem Assistenten und ließ ihn an seinen Forschungen und Heilbehandlungen teilnehmen.
Eines Tages führ Oswald in seinem Auftrag in die Hafenstadt Marseille. Als er die Stadt wieder verlassen wollte, verwehrten vermummte Wachtmänner ihm die Weiterfahrt. Der Herzog der Provence hatte die Stadt abriegeln lassen, denn Seeleute hatten die Pest eingeschleppt. Mit nicht zu fassender Geschwindigkeit verbreitete sich die Seuche in der gesamten Stadt. Jeden Tag gab es Hunderte von Toten. Niemand wusste ein wirksames Gegenmittel. Zwei Drittel der Bewohner fielen der Krankheit zum Opfer, ein Drittel, darunter Oswald, überlebten den grausamen Schicksalsschlag.
Als Oswald nach Narbonne zurückkehrte, war auch dort die Pest ausgebrochen. Er unterstützte seine Professoren, die, soweit es möglich war, den Kranken Hilfe leisteten und dafür Sorge trugen, dass die Leichen der Opfer nicht in der Stadt liegen blieben, sondern vor deren Toren verbrannt wurden.
Wieder gehörte Oswald nicht zu den Betroffenen, und Professor Matin sagte zu ihm: »Nie, wenn irgendwo die Pest aufgetreten ist, sind alle Menschen daran gestorben. Immer gab es Überlebende. Wer mit der Krankheit in Berührung kommt und nicht unmittelbar vor ihr befallen wird, bildet Abwehrkräfte gegen sie. Ähnliches habe ich bei Tierseuchen festgestellt.«
Professor Matin wollte Oswald in Narbonne festhalten und sorgte dafür, dass ihm eine Professur angeboten wurde. Doch Oswald antwortete ihm: »Mein Vater hat sein ganzes Vermögen aufgewandt, damit ich in Frankreich studieren konnte. Er ist Arzt im Herzen Deutschlands, im Vorharzgebirge, und wartet darauf, dass ich ihn bei seiner Arbeit unterstütze, so, wie ich es ihm versprochen habe.« Oswald lehnte alle Angebote ab, in Narbonne zu bleiben, und machte sich auf die Rückkehr nach Wippra im Mansfelder Land.
Als er dort eintraf, war sein Vater gerade gestorben, und Oswald hatte viel zu tun, um dessen zahlreiche Patienten zu versorgen. Er tat es mit höchstem Einsatz, und es dauerte nicht lange, da war er so beliebt wie sein Vater Deodat. Wie dieser nahm auch er immer nur so viel Lohn, wie die von ihm Behandelten auch zahlen konnten.
Nach einem Jahr wurde er zu einem Kaufmann gerufen, der von einer Reise zurückgekehrt und von einem Ausschlag befallen worden war. Oswald untersuchte ihn und erkannte sofort die Ursache seiner Krankheit: Wieder einmal hatte die Pest zugeschlagen.
Es dauerte nicht lange, da hatte sich die Seuche im Mansfelder Land ausgebreitet. Oswald eilte von Ort zu Ort, lehrte Verhaltensregeln, gab Anweisungen zur Hygiene und half, wo er nur konnte.
Eines Tages machte er bei der Familie eines angesehenen Bauern Besuch. Auch hier hatte die Pest ein Opfer gefunden und den Familienvater mit Beulen übersät. Da sagte Oswald zu den Angehörigen: »Für euren Vater kommt meine Hilfe leider zu spät. Doch bei euch, die ihr mit ihm Kontakt hattet und bisher noch nicht von Beulen befallen seid, kann ich vielleicht den Ausbruch der Krankheit verhindern.« Er wies sie an, sich regelmäßig und gründlich zu waschen und zu pflegen, sich in Kräutern, Essig und Tonerde zu baden und häufig die Kleidung zu wechseln und auszukochen. Außerdem trug er ihnen auf, sich viel in der freien Natur zu bewegen und den Kontakt mit dem Vater allein ihm zu überlassen. Tatsächlich wurde außer dem Bauern niemand in der Familie von der Krankheit erfasst.
Des Bauern älteste Tochter war ein sehr hübsches Mädchen mit Namen Silvia. Ihr Vater hatte sie dem jungen gräflichen Rechtsrat Adam zur Ehe versprochen. Als Oswald sie erstmals sah, verliebte er sich in sie, und sie erwiderte seine Liebe. Aus Angst davor, sie mit einer der vielen Krankheiten anzustecken, mit denen er täglich in Berührung kam, schrieb er ihr zwar täglich Liebesbriefe, bat sie jedoch darum, persönliche Begegnungen auf wenige Anlässe zu beschränken. »Wenn die schreckliche Seuche ausgerottet ist«, so schrieb er ihr, »möchte ich dich heiraten, und wir werden gesunde Kinder bekommen. Solange die Pest wütet, bestimmen wir unser Schicksal nicht selbst.« Sie versprachen sich, aufeinander zu warten und gelobten sich ewige Liebe und Treue.
Währenddessen nahm die Zahl der Pestkranken ständig zu. Hand in Hand mit der Pest gingen andere Krankheiten und Epidemien einher. Oswald befürchtete, dass innerhalb weniger Monate fast die gesamte Bevölkerung dahingerafft würde.
In Wippra, auf dem Lieseberg, da, wo sich heute das heilpädagogische Kinderheim befindet, ließ er Hütten und Zelte aufstellen, um die vielen Kranken, die zu ihm gebracht wurden, versorgen zu können.
Auf dem Höhepunkt der Pestwelle hörte er vom Bürgermeister von Wippra die bange Frage, mit wem er in Frankreich Umgang gehabt habe und ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen sei.
»Selbstverständlich doch«, antwortete Oswald. »Zweimal habe ich die Pestepidemie kennengelernt, zweimal gab es unzählige Tote. Doch mit konsequenten Hygienemaßnahmen konnte wenigstens ein Teil der Menschen vor dem Tod bewahrt werden.«
Unerwartet stand eines Tages Silvia vor ihm. »Ich halte es nicht mehr aus ohne dich«, sagte sie. »Die Menschen um mich verlieren jede Hoffnung. Sie zweifeln immer mehr an deiner Heilkunst. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich an dich glaube.«
Er dankte ihr und führte sie in das Zelt, das er sich wohnlich eingerichtet hatte, um seinen Patienten immer nahe zu sein. Dort nahm er ein Bad und lud auch sie dazu ein, ihren Körper in heilenden Kräuteressenzen zu baden. Als sie nackt voreinander standen, hielt keine Macht sie zurück, sich zu umarmen und in wilder Leidenschaft einander hinzugeben. Dann bat er sie, ihn zu verlassen. Die Rufe der Kranken und Sterbenden waren unüberhörbar geworden.
Bevor Silvia sich verabschiedete, sagte sie zu ihm: »Um dich nicht von mir abzustoßen, habe ich dir nicht gesagt, dass mein Vater mich dem Edelmann Adam zur Ehe versprochen hatte. Durch einen Zufall ist Adam dahinter gekommen, dass ich dich liebe. Seitdem verfolgt er dich mit Hass und verbreitet, dass du mit dem Teufel im Bunde seiest. Du selbst hättest die Pest aus Frankreich eingeschleppt, um dich als Arzt im Mansfelder Land unentbehrlich zu machen. Ich habe große Angst um dich und unsere Liebe. Adam ist Gerichtsrat am Hof des Grafen von Mansfeld. Er hat nicht nur den Hass in sich, sondern auch die Macht, ihn auszuleben.«
Oswald versuchte sie zu trösten. »Auch in Frankreich war es so, dass zur Zeit der Pest jeder den anderen verdächtigte, an deren Verbreitung Anteil zu haben. Die, denen ich helfe, sind mir dankbar. Sie werden mich auch verteidigen, wenn man mich eines Verbrechens beschuldigt.«
Still verließ ihn die Freundin. Er hatte sie nicht überzeugen können, und sie wünschte sich insgeheim, dass auch Adam zu einem Opfer der Pest werden würde.
Genauso schnell, wie sie Einzug gehalten, verschwand die Seuche wieder aus dem Mansfelder Land. Glücklich darüber ritt Oswald von Ort zu Ort, ließ sich die Zahl der Todesfälle nennen und versicherte sich, dass es keine neuen Pesterkrankungen mehr gab. Zufrieden stellte er fest, dass entgegen seinen Befürchtungen nicht mehr als jeder zehnte Bewohner der Grafschaft sein Leben hatte lassen müssen. Oswald führte dies auch auf seine Hygienemaßnahmen zurück. Zum ersten Mal in seinem Leben war er ein wenig stolz.
In den Kirchen wurden Dankgottesdienste gefeiert. An vielen Orten fanden Volks- feste statt, auf denen man lobende Worte für Oswald fand und ihn immer wieder hoch- leben ließ.
Kurz darauf wurde er von Soldaten des Grafen verhaftet und in das Verlies der Burg Mansfeld verbracht. Wie von Silvia befürchtet, hatte Adam Anklage gegen ihn erhoben und ihm Teufelswerk unterstellt. Jetzt, nachdem die Epidemie sich verzogen hatte, gab es nicht wenige, die das, was Adam behauptete, recht einleuchtend fanden. Oswald selbst habe die Pest aus Frankreich mitgebracht, um sich als Heilkundiger einen Namen zu machen und das Ansehen seines Vaters Deodat noch zu überbieten. Was lag außerdem näher, als dass jemand, der sich in Städten mit so ungewöhnlichen Namen aufgehalten hatte, auch mit dem Teufel in Kontakt gekommen war.
Silvia flehte Adam an, Oswalds Leben zu schonen. Der jedoch blieb unerbittlich. Der Stein war ins Rollen gekommen.
Oswald überlegte, wie er sich verteidigen konnte. Ein Gutachten der Universität in Narbonne würde sicher seine Wirkung nicht verfehlen. Doch bei einer ersten Vernehmung teilte Adam ihm mit, dass er als Hexer verdächtigt sei und man bei einer peinlichen Befragung von ihm auch wissen wolle, wen er im Mansfelder Land in seinen Teufelspakt einbezogen habe. Peinliche Befragung hieß Folter, und da wusste Oswald, dass jedes gewünschte Geständnis erpresst würde.
Er dachte zärtlich an Silvia. Unsäglich war die Infamie Adams. Er ging bereitwillig das Risiko ein, dass Oswald auch sie denunzieren könnte. »Sie ist ihm nicht so wichtig,
nur ich soll sie nicht bekommen dürfen«, sagte er zu sich selbst.
Um Silvia zu schonen, legte Oswald schon bei seiner zweiten Vernehmung das gewünschte Geständnis ab. Ja, er habe in Narbonne ein Bündnis mit dem Teufel geschlossen. Es sei seine Absicht gewesen, sich die Bewunderung und Zuneigung von Frauen zu erwerben. Entgegen der Absprache habe der Teufel nicht ein Jahr gewartet, sondern die Pest schon sehr bald nach seiner Rückkehr ins Mansfelder Land gebracht. Dadurch sei ihm, Oswald, keine Zeit geblieben, dort weitere Gefolgsleute für seinen Teufelspakt zu gewinnen.
Schnell wurde Oswald abgeurteilt und unter unsäglichen Qualen dem Feuertod zugeführt. Adam hatte dem Henker verboten, Oswald zuvor zu würgen und so seine Leiden zu verkürzen. Niemand stellte sich dem grausamen Tun entgegen. In vielen Familien betete man für Oswalds Seele und zündete Kerzen an. Wer nicht an seine Schuld glauben wollte, den zügelte die Angst.
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aus: Florian Russi: "Der Drachenprinz. Geschichten aus der Mitte Deutschlands", erschienen im Bertuch Verlag, 2004
Bildquelle: Pest in Marseille 1720, gemeinfrei